60 Jahre EU-ropa – Chancen und Scheitern
Der folgende Beitrag aus der Feder Friedrich Langbergs, seinen Vlog findet ihr hier, befasst sich mit dem gegenwärtigen katastrophalen Zustand der EU. Warum wir sie in seinen Augen trotzdem reformieren sollten, könnt ihr hier nachlesen.
Es gibt eine interessante Vertrauensübung, die in der Jugendarbeit oft eingesetzt wird oder bei Mitarbeiterseminaren. Zwei Personen stehen hintereinander, der vorne Stehende bindet sich eine Augenbinde um und lässt sich nach hinten fallen, der Hintere fängt ihn auf. Man lernt dabei, sich auf den, der hinter einem steht, zu verlassen – ihm „blind“ zu vertrauen. Ein ähnliches Spiel spielte die Europäische Union mit uns, als sie uns mit der Versprechung sicherer Außengrenzen dazu brachte, alle Binnengrenzen zwischen Mitgliedsstaaten abzuschaffen. Wir taten es. Wir haben uns die Augen verbunden und nach hinten fallen lassen. Und was tat die EU? Das gleiche wie wir: Sie ließ uns fallen. Wer könnte einem Menschen, der das tut, je wieder vertrauen? Kaum jemand. Warum sollte es bei dieser Institution anders sein?
Dieser Verrat ist das aktuellste Beispiel einer langen Kette gebrochener Versprechen, was auch die Haltung gegenüber der EU zu einer ambivalenten Angelegenheit macht. Berücksichtigt man ihr Potential sowie die theoretischen Vorteile, die sich aus einem solchen Bündnis eigentlich ergeben könnten und sollten, so wird man fast automatisch zu dem, was gemeinhin ein „glühender Europäer“ genannt wird. Sieht man sich die ersten Jahrzehnte des aufeinander Zugehens der Völker, von der EGKS über die EG bis in die junge EU an, so hat man auch hier allen Anlass zum aufrichtigen Beifall. Misst man das Projekt aber an seinen Leistungen seit der Jahrtausendwende, tut sich schon die Sinnfrage auf. Dass dies auch vielen Persönlichkeiten aus der europäischen Elite zu dämmern beginnt, ist daran zu erkennen, dass mit dem Ausbleiben faktischer Erfolge das Hochhalten von Märchen einhergeht. Als da wären:
Die Europäische Union ist das größte Friedensprojekt der Geschichte
Dies ist die am weitesten verbreitete Lüge, die auch heute noch von vielen geglaubt wird. Und doch ist sie Unsinn. Sie war von Anfang an Unsinn. Die Europäische Union ist nicht die Urheberin des Friedens in Europa, sondern das Ergebnis eines Friedens, den Europa eben nicht selbst wiederherstellen konnte. Den Frieden in Europa verdanken wir, auch wenn sich in der Ära von Trump und Putin nur wenige dessen besinnen wollen, den Amerikanern und Russen. Sie haben den Engländern und Franzosen dabei geholfen, einen Geisteskranken aus der Welt zu schaffen, den wir eben alleine nicht losgeworden sind. Jetzt könnte man natürlich argumentieren, die EU habe verhindert, dass es wieder zu Krieg gekommen ist – der stand ja in der europäischen Geschichte von den antiken Griechen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wirklich an der Tagesordnung. Aber auch das ist falsch. Nicht nur, weil sie in den Neunzigern am Balkan, der ja bekanntlich auch zu Europa gehört, total versagt hat. Auch aus weniger offensichtlichen Gründen: Wofür ist denn über die Jahrhunderte Krieg geführt worden in Europa? Raum und Ressourcen. Die Ressourcen, von denen die industrialisierte Welt abhängt, liegen heute nicht mehr zwischen Deutschland und Frankreich, sondern in den Ländern der arabischen Welt. Welch ein Zufall, dass die Kriege nun genau dorthin gewandert sind. Wären die heroischen Einsätze des Westens wirklich seinen Werten geschuldet, dann hätte er auch in Ruanda eingreifen müssen, wo 1994 eine Million Menschen mit Macheten abgeschlachtet wurde. Aber wozu? Da gibt es kein Öl. Der zweite Aspekt ist jener des Raums: Wir schrumpfen, noch nie in der Geschichte war die Geburtenrate so niedrig. Wir führen auch deswegen keine Kriege mehr miteinander, weil uns neben den Gründen auch schlicht das Personal fehlt. Bürgerkrieg, Krieg und Expansion findet immer dort statt, wo es lange Zeit einen Geburtenüberschuss gibt. Das liegt daran, dass, wenn eine Familie fünf Söhne hat, für zwei von ihnen in der Gesellschaft kein Platz sein wird. Einer kommt im Familienbetrieb unter, der zweite geht zur Polizei und der dritte wird vielleicht Arzt. Die übrigen schlagen sich entweder gegenseitig die Köpfe ein oder gemeinsam die Köpfe des Nachbarlandes. Anders gedacht: Überträgt man die Wachstumsrate von Pakistan seit 1945 auf Deutschland, dann hätten wir in Europa heute 550 Millionen Deutsche, also alleine mehr Deutsche, als es heute insgesamt Europäer gibt. Sicher, dass dieser Umstand einfach siebenmal mehr Pazifismus und Toleranz im Herzen des Kontinentes bedeuten würde? Eher nicht. Auch das Verhältnis zum Kind ist ein ganz anderes, wenn jede Familie nur eines hat. Man plant es ewig lange vor, beschäftigt sich schon vor der Zeugung mit der Bedeutung von Vornamen, richtet ein rosafarbenes oder hellblaues Zimmer ein, zieht in einen Wohnbezirk mit einer guten Schule, denkt überhaupt erst an Kinder, wenn man ein ausreichend hohes Einkommen hat usw. Die Bereitschaft einer Gesellschaft, ihre Wunschkinder zu opfern, ist signifikant niedriger als in einer solchen, die sich mit den Folgen einer Überbevölkerung von acht oder zehn Kindern pro Frau zu plagen hat.
Von all dem abgesehen: Denkt wirklich jemand, dass im Falle eines Stilllegens der EU die Deutschen sonst nichts zu tun hätten, als sofort wieder Österreich zu besetzten und in Polen einzumarschieren? Das ist doch lächerlich. Sich angesichts all dessen den Friedensnobelpreis zu verleihen, ist, vorsichtig formuliert, selbstbewusst. Eigentlich ist das der zweitgrößte Witz seit der Geschichte dieser Auszeichnung, dicht hinter jener für Barack Obama.
Europa schafft Sicherheit
Das muss man der Europa lassen: Sicher war es hier lange, lange Zeit – und immer noch zählen die Länder der EU mit zu den sichersten auf der ganzen Welt. Wieder aber stellt sich die Frage: Ist das wirklich der EU zu verdanken, oder liegen auch dieser erfreulichen Entwicklung letztlich ganz andere Ursachen zugrunde? Man bedenke hierbei wieder die Überalterung der Gesellschaft. Die Psychiaterin Heidi Kastner hat einst treffend festgestellt: Das gefährlichste Wesen der Welt ist der junge Mann. Dass ein Überschuss an Achtzigjährigen Pensionisten statistisch weniger kriminell auffällt als etwa ein Überschuss an jungen Arabern, scheint vielleicht auch den hartgesottensten Realitätsverweigerern schlüssig. Eine weitere Ursache für Kriminalität ist bekanntlich die Armut. Da in der westlichen, industrialisierten Welt ein üppiger Wohlstand herrscht, sehen sich weniger Leute dazu veranlasst, Vermögensdelikte zu begehen. Dies alles waren Fragen der inneren Sicherheit. Aber wie sieht es mit den Fragen der äußeren Sicherheit aus, also mit allen Bedrohungen, die die Gesellschaft nicht aus sich selbst heraus produziert, sondern die von außen auf uns einwirken? Dazu muss man sagen: Wir wissen es bislang nicht, weil wir einfach seit 72 Jahren nicht von außen bedroht wurden. Die Gefahren der Einwanderung, mit der zahlreiche Vergewaltigungswellen und Terroranschläge einhergingen, konnte die EU jedenfalls nicht verhindern, womit wir wieder beim Anfang wären: Dem Totalversagen der Grenzsicherung. So gesehen hat die EU diese Vorfälle nicht nur nicht verhindert, sondern sie durch ihr Versagen sogar mit verschuldet.
Der EU verdanken wir unseren Wohlstand
Das ist auch so eine breitgetretene Mär, die vollmundig verkündet wird, ohne bewiesen zu werden. Gestützt wird die Behauptung in der Regel auf den freien Markt und den Verweis darauf, dass die österreichischen Exporte seit dem Beitritt zur EU massiv zugenommen haben. Das stimmt: Lag die Exportquote 1995 noch bei 24%, liegt sie heute bei 40%. Die Kehrseite der Medaille ist: Auch die Importe sind von 27% auf 40% angewachsen. Unterm Strich exportieren wir also deutlich mehr, was Arbeitsplätze schafft, importieren aber auch deutlich mehr, was dann wiederum nicht im Inland hergestellt zu werden braucht und damit Arbeitsplätz kostet. Auch der Kostendruck war vor dem Wettbewerb mit den Niedriglohnländern ebenso nicht gegeben wie eine generelle Schwächung der Position von Arbeitnehmern gegenüber Arbeitgebern. Während nämlich vor dem Beitritt Arbeitnehmer etwa das mächtige Instrument des Streiks effektiv einsetzten konnten, sobald sie sich von ihren Konzernen übergangen fühlten, kann heute jede Firmenleitung die Drohkulisse der Abwanderung aufbauen, was sie in der Verhandlung naturgemäß deutlich begünstigt. Nicht umsonst steigt die Ungleichheit auch in Österreich immer weiter an: 5% der Österreicher besitzen 45% des gesamten Vermögens, während die unteren 50% nur 4% des Vermögens besitzen. Letztlich etabliert sich im von der EU umstrukturierten Markt eine Kultur der Umverteilung von Macht und Kapital von unten nach oben.
Die EU als Hüterin der Demokratie
Die demokratische Gesinnung ist ein zentrales Versatzstück jenes nur abstrakt und instinktiv wahrnehmbaren Katalogs, den wir unter dem Titel „westliche Werte“ zusammenfassen. Weil die EU sich thematisch auf alles setzt, was als Begriff positive Assoziationen hervorruft, nimmt sie natürlich auch den Umstand als Zeugnis ihres Wirkens in Anspruch, dass es in den Staaten Europas demokratische Grundordnungen gibt. Angesichts des politischen Handelns in der Praxis wirkt diese Anmaßung geradezu grotesk. Vielmehr ist es ja so, dass wir nicht dank der EU in demokratischen Verhältnissen leben, sondern trotz ihr. Die EU selbst nämlich ist eine äußerst undemokratisch konstruierte Sphäre, in der, abgeschirmt von aller Öffentlichkeit, zehntausende Beamte mit einer Überzahl an Lobbyisten in die Geschicke der Länder eingreifen – ohne gewählt worden zu sein, und natürlich auch ohne abgewählt werden zu können. Martin Schulz, der bisherige Präsident des Europaparlamentes und nunmehrige Spitzenkandidat der deutschen SPD, sagte einst selbst in einem Interview: „Wäre die EU ein Staat und würde bei sich selbst einen Mitgliedsantrag stellen, würde sie mangels demokratischer Substanz abgelehnt.“ Das Problem ist, dass es am europäischen Kontinent gar keine Voraussetzung gibt für eine funktionierende gemeinsame Demokratie aller Länder. Eine solche setzt nämlich eine gemeinsame Bevölkerung, eine gemeinsame Presselandschaft, eine zentrale politische Bühne und eine politische Gesamtgemeinschaft voraus, an der alle partizipieren können – auch emotional. Das ist nicht der Fall. Jedes Land unterhält seine eigenen Parteien in eigenen Parlamenten, seine eigenen Zeitungen, spricht seine eigene Sprache usw. Wer die Union nach dem Vorbild Amerikas zu einem Gebilde der „Vereinigten Staaten“ verschmelzen möchte, lässt eben das außer Acht: Alle Staaten Amerikas sind aus britischen Kolonien hervorgegangen. Es waren von Anfang an Menschen gemeinsamer Sprache, die eine gemeinsame Geschichte hatten. Die Landschaft Europas war seit den griechischen Stadtstaaten auf Konkurrenz und Wettkampf ausgelegt, mit all seinen Vor- und Nachteilen. Selbst wenn man diesen Zustand mit Bedauern auffassen wollte, so kann man dennoch nicht einfach die gesamte Geschichte eines Kulturraumes aus seiner kulturellen DNA heraussezieren. Das Ergebnis ist eine Institution über den Institutionen, die demokratischen Ansprüchen nicht gerecht und von keiner kollektiven kritischen Öffentlichkeit kontrolliert wird. Das Parlament etwa hat nicht einmal das Recht Gesetzte zu initiieren, es kann maximal zu Vorschlägen der Kommission Zustimmung oder Ablehnung bekunden. Damit gleicht es eher dem, was wir in Österreich als Bundesrat unterhalten. Jenen Bundesrat, den immer wieder Leute abschaffen wollten, mit der Begründung, er habe ohnehin keine Kompetenz. Die Kommission wiederum hat ihrerseits sowohl exekutive als auch legislative Kompetenzen. Das bedeutet, sie kann Gesetze beschließen und auch durchsetzen – eine totale Widrigkeit gegenüber der Gewaltenteilung. Und das, wohlgemerkt, ohne von irgendjemandem gewählt worden zu sein. Aber nicht nur die undemokratische Konstruktion an sich ist zu bemängeln. Auch die oft verächtliche Haltung europäischer Eliten gegenüber dem Nationalstaat, in dem die Demokratie noch funktioniert, ist signifikant. Wir alle kennen die Beispiele: Jedes Mal, wenn ein Referendum zuungunsten der Eurokraten abgehalten wird, weht ein Sturm der entrüsteten Propaganda über das jeweilige Volk, dass es wagt, Stellung gegen die Obrigkeit zu beziehen. Wir erinnern uns an die negativ ausgegangenen Volksabstimmungen in Irland, Frankreich und den Niederlanden zum Verfassungsvertrag, die einfach so oft wiederholt werden mussten, bis das Ergebnis passte. Als dies nicht gelang, wurde der Verfassungsvertrag einfach in Vertrag von Lissabon umbenannt und auf Umwegen gegen die Völker durchgedrückt. Wenn in Ungarn oder Polen Volksbefragungen abgehalten werden zur Flüchtlingspolitik der Union, lässt man ihnen ausrichten, sie verhielten sich „uneuropäisch“. Als wäre es ein europäisches Charakteristikum, sich als Volk von den Eliten ohne Widerstand bevormunden zu lassen. Das Europa des 17. Jahrhunderts mag so gestaltet gewesen sein, heute gibt es keine Veranlassung, sich als mündiger Bürger bevormunden zu lassen. Offensichtlich wird der Absolutheitsanspruch der Macher Europas auch daran, dass die Begriffe „Europakritiker“ oder „Europaskeptiker“ zu regelrechten Schimpfworten gemacht wurden. Kritisch und Skeptisch zu sein ist eine zentrale Voraussetzung für eine freie, bürgerliche Existenz. In ihrer heutigen Verfasstheit ist die Demokratie etwas, das wir vor der Union Schützen müssen, und nicht etwas, das unter ihrer Fuchtel gedeihen würde. Nur konsequent war daher die Entscheidung der Briten, dem Projekt ade zu sagen.
Warum wir die EU reformieren müssen, anstatt sie zu zerstören
Wie in der Einleitung schon angedeutet, ist die Lage, in der wir uns befinden, eine ziemlich verzwickte. Einerseits müssen wir heute erkennen, dass die EU, dieses auch ohne alle verlogenen Märchen große und anerkennungswürdige Projekt, verkommen ist zu einem Sumpf sich selbst ermächtigender Plutokraten ohne Anstand, Gewissen und Ehrgefühl. Ein Hort einer isolierten Beamtenkaste, die sich von den Völkern so weit entfernt hat, dass ihr jeder Sinn für die Wirklichkeit abhandengekommen ist, in der selbige leben. Das ist aber nur der konzentrierte Blick auf die frustrierende Gegenwart. Sein Urteil hat keine Geltung für die Vergangenheit, und noch viel wichtiger: es muss auch kein abschließendes Urteil sein. Was in der Zukunft noch alles möglich ist, hängt davon ab, was wir selbst aus ihr machen. Wenn wir unsere Kräfte bündeln und auf eine nachhaltige Reform konzentrieren, können wir all den potentiellen Gewinn retten, um den wir uns selbst betrügen, wenn wir dem moralischen und politischen Verfall der EU weiter tatenlos zusehen. Die EU in ihrer heutigen Verfassung könnte man stilllegen wie ein ausgelaufenes Atomkraftwerk, sie würde niemandem abgehen. Die EU als Summe ihrer Möglichkeiten hingegen wäre ein für uns alle kaum zu ersetzender Verlust.
Gewicht in der Welt
Ein veranschaulichendes Beispiel für das Auseinanderklaffen zwischen theoretischem Potential und dem faktischen Scheitern ist an jenem Argument zu studieren, dass die Befürworter der EU völlig zu Recht immer wieder herunterbeten: Gelenkt aus einer starken Mitte, vermögen wir natürlich das Gewicht unserer 500 Millionen Bürger auf der globalen Bühne viel zielsicherer in politische Macht zu übersetzen. Dafür brauchen wir einen solchen Bund: Für die ganz großen Dinge. Ein fast 50.000 Beamte beschäftigender Betrieb mit fünf mächtigen und einer Handvoll weiteren Institutionen wäre dafür auch bestens gerüstet. Demotiviert aber müssen wir hinnehmen, dass die EU auf der Ebene, für die sie eigentlich da ist, in einer Tour scheitert und scheitert. Viel zu lange hat man sich damit begnügt, im Windschatten der USA als Erfüllungsgehilfe zu agieren. Nun, da sich der schrumpfende Riese nach und nach aus der Welt zurückzuziehen beginnt, wird die eigentliche Ohnmacht unserer politischen Vereinigung offensichtlich. Die Errichtung einer Diktatur in der Türkei haben wurde nicht verhindert, sondern mit 700 Millionen Euro Heranführungshilfe im Jahr unterstützt. In der Ukraine wurde hilflos zugesehen, um dann eine faschistische Regierung zu unterstützten – Hauptsache gegen Putin. Dem Blutbad in Syrien wurde zunächst jahrelang tatenlos zugesehen, nur um sich dann in aller Verzweiflung einer Koalition anzuschließen, ohne auch nur den geringsten Überblick über die Lage zu haben. Die Invasion durch Migranten verhindert die EU nicht, im Gegenteil wäre die Lage ohne sie eine bessere gewesen, weil wir davor wenigstens noch die innerstaatlichen Grenzen hatten, wenn es schon keine feste Außengrenze geben konnte. Für all das wäre ein Beitrag der EU eigentlich wünschenswert und notwendig. Leider erleben wir in solchen Dingen nur das Aufeinanderprallen moralischen Größenwahns mit politischer Impotenz. Die Anstrengungen, die auf dieser Ebene fehlen, werden natürlich dann nach unten hin entladen: Glühbirnen, Gurken, Traktorsitze, Speisekarten, Kopfhörer, geförderte Schwimmbäder oder Theaterprojekte sowie genormte Kännchen mit Olivenöl. Ja, dafür brauchen wir natürlich unbedingt diesen sündteuren Moloch. Noch nie in der Geschichte dieses Kontinentes hat es eine aggressivere Verschwendung von Potential gegeben.
Kulturelle Annährung
In dieser Angelegenheit hat die EU wirklich viel geleistet. Die gemeinsame Währung, das gemeinsame Projekt, der Austausch von Studenten, Arbeitern in einem Raum ohne Grenzen, sogar die tendenzielle Umverteilung von Vermögen aus reicheren Gebieten in Ärmere, all das ist in Summe begrüßenswert und wäre ohne das Projekt der EU wohl kaum in diesem Tempo erreicht worden – wenn überhaupt. Die Tatsache, dass heute langsam aber sicher eine europäische Identität entsteht, ruht auf einem Fundament, dessen Grundstein zweifelsohne von den Vorgängerinnen der EU gelegt wurde. Eine solche kollektive Identität ist wichtig, weil sie eine Voraussetzung für alle gemeinsam zu erreichenden Ziele darstellt. Nur was sich als Einheit fühlt, kann auch als Einheit handeln. Auch in dieser Angelegenheit muss leider festgestellt werden, dass die Akteure der Union derzeit drauf und dran sind, die hart erarbeiteten Früchte ihrer eigenen Vergangenheit nachhaltig zu vergiften. Schon lange gab es nicht mehr so viel Missgunst unter den europäischen Völkern, wie wir heute als Reaktion auf den zentralisierten Zwang erleben, der Von Brüssel auf die Völker ausgeht – sei es in Finanzfragen oder in Bezug auf die Flüchtlingskrise.
Sicherheit
In so gut wie jedem Zusammenhang wird darauf gepocht, gemeinsam wäre durch die EU mehr zu erreichen, als jeder Einzelne für sich erreichen könnte. In vielen Bereichen ist das natürlich völliger Unsinn. Die Lautstärke von Kopfhörern zu Normen ist eine Aufgabe, mit deren Besorgung Brüssel die Hauptstädte seiner Mitglieder um nichts weiter bringt. Gerade in der Sicherheitspolitik wäre eine funktionsfähige EU allerdings ein enormer Gewinn. Insbesondere bei den Terroranschlägen der vergangenen Monate wurde offensichtlich, wie dramatisch etwas das Betreiben nationaler Geheimdienste gegen eine globale Bedrohung versagt hat – seit Jahren wird von Sicherheitsexperten eine Zusammenarbeit der jeweiligen Organisationen eingemahnt. Auch das Unterhalten dreißig nationaler Armeen macht die Verteidigung des Kontinentes im Gesamten sicher nicht dreißig Mal effizienter als ein gemeinsames Heer es wäre – viel eher ist das genaue Gegenteil zu befürchten.
Wirtschaft
Damit hat alles angefangen – die vier Grundfreiheiten sind eine Säule der Europäischen Union: Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Selbst wenn damit für die reichsten Länder der Union gewisse Risiken einhergehen, die oben angeführt wurden, ist der freie Wirtschaftsraum gesamteuropäisch gesehen etwas begrüßenswertes, weil Wohlstandsniveaus langfristig angeglichen und die Missgunst unter den Völkern damit ausgelöscht wird – der Kontinent wird friedlicher und gerechter. Auch die innergesellschaftliche Ungleichheit könnte durch Maßnahmen auf europäischer Ebene massiv eingedämmt werden. Wenn etwa Vermögen in der gesamten EU höher besteuert und die Steuerleistung wie in den USA an die Staatsbürgerschaft gekoppelt würde, wäre Kapital schon weniger fluchtgefährdet. Setzte Österreich beispielsweise für sich Schritte in diese Richtung, wäre es ja ein leichtes für Vermögende, einfach formal den Wohnsitz z.B. nach Bayern zu verlegen. Aus ganz Europa ließen sich wohl aber wirklich nur die aller Raffgierigsten vertreiben, und um die wäre es ohnehin nicht schade.
Wir schaffen das!
Wir sehen also heute, 60 Jahre nach dem Entstehen der Europäischen Union, dass das Projekt noch lange nicht abgeschlossen ist. Nichts ist in Stein gemeißelt, das Erreichte ebenso wenig wie das, was gehörig schief läuft. Die EU wird sich verändern, das ist sicher. Offen ist nur, ob die reformatorischen Kräfte aus dem Inneren heraus stark genug sein werden, den Wandel herbeizuführen, oder ob die äußeren Umstände auf globaler Ebene uns ohne eine mögliche Einflussnahme unsererseits in eine Form pressen, mit der wird dann leben müssen. Kurz: Der Wandel kommt, wir haben nur noch die Wahl ihn zu gestalten oder zu erleiden. Über Jahrhunderte ist nun fast jede diese Welt beherrschende Lehre der geistigen Schaffenskraft unseres Kontinentes entsprungen – im Guten wie im Schlechten. Der technische Fortschritt, der medizinische Fortschritt, die Erkenntnisse der Wissenschaft, der Materialismus, der Kommunismus, der Faschismus, die Aufklärung, wir waren in den tiefsten Meeren und weit oben in den Sternen. All das verdanken wir der Schöpferkraft, die uns über Generationen die vorherrschende Rolle auf dem Globus gesichert hat. Nun ist nichts für die Ewigkeit, kulturelle Hegemonie kommt und vergeht. Wir hoffen darauf und glauben daran, dass in unseren Völkern noch genügend Wille und geistiges Potential vorhanden sind, um uns als Gemeinschaft, als politischer und kultureller Raum neu zu erfinden, uns eine Ordnung zu bauen, nach der wir gemeinsam Leben können und wollen. In unser aller Interesse.