Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Markovics
III.Kischinauforum
Das gegenwärtige Internationale System. Vom Globalismus zur Mulitpolarität
Irnerio Seminatore, Vorsitzender des Europäischen Instituts für Internationale Beziehungen (Belgien)
Gliederung
Das System und die Lage
Das System und seine Machtebenen
Strategische Bewegungen und Widersprüche in den Bündnissen in Eurasien
Das Multipolare System “Ein globales Konzert der Nationen” oder “Stärkung der Weltregierung”?
Von Europa nach Eurasien. Ein Wandel der geopolitischen Paradigmen.
Der Niedergang der Hegemonie. Hegemonische Alternatierung oder “systemische Revolution”?
Wem gehört die Zukunft? Planetarischer Raum, Demokratie und Nationalstaaten.
********************
System und Situation
Das gegenwärtige internationale System, welches auch das interstaatliche System, die globale Gesellschaft und die wirtschaftliche Globalisierung miteinschließt, ist von einer dreifachen Dynamik der I) Fragmentierng II) Polarisierung und III) Konfrontation gekennzeichnet, wobei die Letztere sich in eine Rekonfiguration der militärischen Allianzen übersetzt, angesichts der Gefahr eines Konfliktes zwischen China, den Vereinigten Staaten und Russland im Angesicht der Thukydidesfalle (G. Allison).
Diese Gefahren gehören zur historischen Ordnung und bringen eine ambivalente Politik von Rivalitäten-Partnerschaften und Antagonismen hervor. Diese politischen Ansätze drehen sich um die Kontrolle Eurasiens und des Indischen wie Pazifischen Ozeans, die Ausdruck in den Strategien des Herzlandes (Heartland) (1) und des Randlandes (Rimland) (2) wiederfinden.
Diese Rivalitäten, welche gerade viele Teile der Welt erschüttern, haben Ost und West dazu gezwungen ihre Militärbündnisse zu festigen und nach einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa zu suchen, sowie strategischer Stabilität und Einheit für den europäischen Raum.
Jedoch kann man heute jeglichen Versuch eine regionalen Ordnung nur aus der Perspektive einer globalen planetarischen Ordnung und der Suche nach einem planetarischen Gleichgewicht und Stabilität begreifen.
Wir können die Bewegungsfreiheit der Regionalmächte im Mittleren Osten, dem Arabischen Golf und dem Iran nur verstehen, wenn wir uns das geopolitische und strategische Dreieck zwischen Russland, den Vereinigten Staaten und China sowie seiner Unterebene bestehend aus Europa, Indien und Japan vor Augen halten. Genau hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der großen Strategie der Großmächte.
Das System und seine Ebenen der Macht
Von einem analytischen Blickwinkel aus überlagern im internationalen System mehrere Ebenen der Macht einander.
- Die klassischen Machtpole, plurizentrisch und buchstäblich miteinander im Konflikt stehend (USA, Europa, Russland, China, Indien,…)
- Eine verborgene globale Bipolarität, welche auf einem asymmetrischen Kondominium aufbaut (Die USA und China)
- Drei große Einflusszonen, welche von den drei zivilisatorischen Gebieten inspiriert wurden, nämlich Europa, den USA und dem Reich der Mitte
Vor diesem Hintergrund wird die große Weltbühne zu einem Schauplatz für eine Vielzahl von Strategien: Universal für die Vereinten Nationen, wirtschaftlich für die Institutionen von Bretton Woods und im Bereich der Sicherheit und des Militärs durch ein System regionaler Allianzen (etwa der NATO).
Die geopolitische Einzigartigkeit der Vereinigten Staaten, der größten Insel der Welt, liegt darin, dass sie dazu gezwungen sind die gewaltigen Ausmaße Eurasiens zu bewältigen, welche das Gravitationszentrum der Geschichte darstellen.
Wird Amerika zu einem Pol unter vielen werden, umstritten, aber noch immer tonangebend?
Strategische Bewegungen und die Antinomien der Bündnisse in Eurasien
In jedem internationalen System wird der Niedergang der Hegemonialmacht durch das Zusammenrücken der Militärbündnisse eingeläutet. Dieser Moment selbst stellt sich als Antinomie der Optionen zwischen konservativen Mächten (“status quo”) und spalterischen Mächten (Revisionisten oder Enttäuschten) dar.
Heute kann man die Strategien der bestimmenden Mächte auf der Welt in einer defensive Strategie der Stabilisierung und aktiven Überwachung für den Westen und eine offensive Strategie der Subversion und der Herausforderung der gegenwärtigen Hierarchie der Mächte für den Osten herunterbrechen.
Es entfalten sich also in der gegenwärtigen Situation zwei gegenerische strategische Bewegungen auf einer planetarischen Ebene:
– Das sino-russische Bündnis, welches darauf abzielt die strategische Autonomie des Herzlandes im Konfliktfall sicherzustellen und in Friedenszeiten eine internationale Kooperation in großen Infrastrukturprojekten voranzutreiben (OBOR [One Belt One Road – die Neue Seidenstraße, Anmerkung AM] mit der Beteiligung von mehr als 70 Ländern.)
– Die Strategie der “Eindämmung” der kontinentalen Mächte durch die Seemächte des “Randlandes” (Amerika, Japan, Australien, Indien, Europa,etc.) als Halbinselgürtel außerhalb Eurasiens.
Halten wir uns vor Augen, dass beide Seiten sich in erklärter Feindschaft gegenüberstehen, mit einander widersprechenden strategischen Zielen.
Tatsächlich ist das sino-russische Paar als “strategischer Konkurrent” oder “systemischer Konkurrent” (insbesondere durch die EU) definiert, dass heißt es ist ein Konkurrent, welcher sich weigert sich der internationalen Ordnung zu unterwerfen, welche ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges war und von den Vereinigten Staaten erschaffen wurde.
Das multipolare System. “Ein globales Konzert der Nationen” oder “Stärkung der Weltregierung”?
Die grundlegende Eigenschaft des multipolaren Systems liegt darin, dass es nicht auf der Globalisierung aufbaut im Sinne einer “Stärkung der Weltregierung” mit multilateralen Institutionen (UN, IMF, G7 oder G20) und das U.S. Amerikanische System nicht ergänzt um die Mitgliedsstaaten in einer globale Zusammenarbeit zu integrieren. Das multipolare System strebt vielmehr danach die ureigenen Interessen der Hauptakteure zu identifizieren, deren Ziele buchstäblich konflikthaft sind.
Daher liegt das Ziel also nicht darin Gleichgewichte zu identifizieren, ausgehend von Konzepten des Austauschs und der Kooperation, sondern darin strategische Brüche vorauszuahnen unter der Oberfläche der augenscheinlichen Stabilisierung.
Von Europa nach Eurasien. Ein Wandel in den geopolitischen Paradigmen.
Folglich hat das Ende der Bipolarität, welches sich mit dem Kollaps des sowjetischen Imperiums ereignete, eine Quelle der Spannung zwischen den zentrifugalen Anstrengungen der Nachbarstaaten dem “nahen Ausland”, welches versuchte sich vom imperialen Zentrum zu befreien und der gegenteiligen Reaktion aus Moskau erzeugt, welches entschlossen ist seine Autorität in der Peripherie durch eine Reihe von einnehmenden Bündnissen wiederherzustellen (CSTO, SCO)
Russland und alle Nationen Zentralasiens bis hin zum Arabischen Golf, dem Nahen Osten und dem Maghreb haben keine erfahrenen demokratischen Führer. Die Europäische Union wiederum besitzt solche für den Zweck der Beeinflussung und der Kontrolle von Spannungen im Angesichts der Abwesenheit eines klaren geographisch-strategischen Konzepts des Herzlandes, welches mit der mediterranen Halbinsel beginnt und das türkische Plateau sowie den Kaukasus umfasst, bevor es das Herzland Zentralasiens erreicht.
Es liegt nun am atlantischen Bündnis den Westen und seine geopolitischen Interessen zusammenzuschweißen, diesen rießigen Raum zwischen Amerika und Europa.
Der “Niedergang des Hegemons”. Hegemoniale Alternierung oder “systemische Revolution”?
Die Frage welche aus der Debatte um die Rolle der Vereinigten Staaten in der gegenwärtigen Situation resultiert ist, ob diese “hegemonische Stabilität” (R.Gilpin) welche mehr als 70 Jahre lang durch Amerika garantiert wurde gerade am Verschwinden ist und damit den Niedergang des Hegemons und der Westlichen Zivilisation einläutet oder ob wir mit einer hegemonischen Alternierung und eine post-imperialen Welt konfrontiert werden.
Die damit einhergehende und gleichsam zentrale Frage kann man so formulieren: “Welche Form wird dieser Übergang annehmen?”
Wird er die bereits bekannte Form einer Serie von Konflikten annehmen, in welcher der eine zum anderen führt, wie im Modell von Raymond aron, aufbauend auf einem Studium des 20. Jahrhunderts oder wird er die Form eines grundlegenden Wandels der Zivilisation annehmen, welcher auch die Idee der Gesellschaft und die Figur des Menschens umfasst, wie im Strausz-Hupé Modell einer “systemischen Revolution” dargelegt, gekennzeichnet durch vier große revolutionäre Perioden in der Geschichte, welche das Universum der sozio-politischen Beziehungen des Westens umfasst und die großen und altbekannten Zivilisationsräume umfasst.
Jeder von uns wird verstehen, dass dies unsere eigene Frage ist, die Frage unserer Zeit und die Frage unseres Forums.
Wem gehört die Zukunft? Planetarischer Raum, Demokratie und Nationalstaaten
In einer interdependenten Umwelt werden Nationen, welche als Nationalstaaten und Zivilisationsstaaten geprägt wurden, foranschreiten. Diese Nationen haben nachhaltige Konfigurationen mit einer politischen Stabilität als Grundlage, egal ob sie traditionell oder modern sind, darüber hinaus besitzen sie eine geographische und räumliche Kohärenz, welche sie sich im Laufe der Geschichte erlaubt haben anzunehmen und heute die Grundlage für ihr Überleben bildet.
Philosophisch und strategisch gesehen wird der neue Zugang zum historischen Prozess ein systemischer, pluralistischer und komplexer sein, antithetisch zum Dialektischen und der universalisierenden Methode des westlichen Hegelianismus.
Heute offenbaren die Kehrseiten der Geschichte die bitteren Enttäuschungen über die Legitimitätskrise der Demokratien, über die Konzeptionen der Herrschaft des Rechts und universaler Rechte, welche schuldig sind die intime Beziehung zwischen dem Individuum und dem Universalen zugunsten von Konzepten und Visionen einer Welt ohne Transzendenz auseinandergerissen zu haben. Dadurch wurde einer Revolte der Tradition und der Vergangenheit als authentischer Form der Historizität bereitet.
Vor diesem Hintergrund erscheint eine weitere Ausbreitung des “demokratischen Modells” in seiner abstrakten Form als der Ausdruck einer utopischen Sicht der Geschichte welche mit einer historischen Interpretation der Welt aneinanderkracht.
In dieser Analogie bekennen sich die Tradition und traditionelle Gesellschaften zum Ausdruck anderer Formen der “Historizität”, welche der Idee des Rationalismus gleichgültig gegenüber stehen, ebenso wie dem Zweifel und der “Demokratie”, dass heißt, dass sie deren kosmopolitischen, libertären und nicht-organischen Schichten beiseite schieben, welche in jedem Fall von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen werden.
Die Demokratie als “Modell” zu interpretieren bedeutet also die Tatsache zu leugnen, dass sich politische Regime ihrer eigenen historischen Individualität nach entwickeln, oder ihren eigenen Gesetzen nach, welche in Europa souveränistisch oder staatlich-national geprägt sind.
Brüssel am 11. September 2019
(1) Herzland (Heartland), “Der geographische Drehpunkt der Geschichte“, 1904, Halford Mackinder
(2) Randland (Rimland), die Seegrenze Eurasien, oder “innerer Halbmond”, ein geostrategisches Konzept von Nicholas Johan Spykman.
Der Text wurde zur Präsentation für das III. Kischinauforum am 20. und 21. September 2019 vorbereitet.