Alain de Benoist: Was ist Europa?

Alain de Benoist

Europa: Der Text von Alain de Benoists Colloquium am 26.04.2014

Übersetzung ins Deutsche: Alexander Markovics

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,

vor 25 Jahren sah es so aus, als würde Europa die Lösung für beinahe alle Probleme sein. Heute sieht es so aus, als wäre es nur ein weiteres Problem, welches zu den anderen dazukommt. Unter dem Eindruck der Desillusionierung werden von allen Seiten Vorwürfe gemacht. Die Menschen kritisieren die Europäische Kommission für alles: Dafür, dass sie viele Dinge einschränkt, sich in Dinge einmischt, welche sie nichts angehen, für ihr Verlangen alle bestrafen zu wollen, dass sie unsere Institutionen lähmt, dass sie undurchschaubar organisiert ist, dass sie keine demokratische Legitimität besitzt, die Souveränität der Völker und Nationen auslöscht und schließlich, dass sie nur ein bloßes Herrschaftsinstrument ist. In der Mehrheit aller europäischen Länder befindet sich die Zustimmung zur Europäischen Union seit zehn Jahren im freien Fall. Der Anteil jener Menschen in Frankreich, welche glauben, dass die Zugehörigkeit zur EU etwas schlechtes sei, ist von 25% im Jahr 2004 auf 41% im Jahr 2013 radikal angestiegen. Vor kurzem offenbarte eine Umfrage des Ipsosinstitus, dass 70% der Franzosen “die Macht Europas einschränken” wollen.

Es ist eine Tatsache, dass sich die Europäische Union heute in einer bisher dahin nie dagewesenen Legitimitätskrise befindet. Es ist auch eine Tatsache, dass das Spektakel nichts Aufregendes anbieten kann. Aber wie sind wir dahin gelangt?

Die “Dekonstruktion” Europas begann mit dem Anfang des Jahres 1990, als die Debatte um die Ratifizierung des Maastrichtvertrages ins Rollen kam. An diesem Zeitpunkt begann man die Zukunft Europas zunehmend als etwas höchst Problematisches wahrzunehmen und eine große Anzahl von Europäern wurde desillusioniert. Als die Globalisierung noch zusätzliche Ängste weckte, wurden sich die Menschen dessen bewusst, dass Europa keine höhere Kaufkraft, eine bessere Regelung des kommerziellen Austauschs in der Welt, eine Verhinderung der Arbeitsplatzverlagerungen und keinen Rückgang der Kriminalität garantieren konnte, sondern vielmehr das Gegenteil. Die europäische Konstruktion erschien dann nicht mehr als Heilmittel gegen die Globalisierung, sondern vielmehr als ein Schritt hin zu dieser Globalisierung.

Von Anbeginn entwickelte sich diese Konstruktion gegen den Hausverstand. Man beging dabei vier grundlegende Fehler: 1) Man begann mit der Wirtschaft und dem Handel, anstatt mit der Politik und Kultur. Der Grund dafür lag in der Vorstellung, dass durch einen Türklinkeneffekt die politische Staatsbürgerschaft sofort auf die wirtschaftliche folgen würde. 2) Der Wunsch Europa von oben zu schaffen, anstatt es von unten zu gründen. 3) Indem man eine übereilte Erweiterung Europas vorantrieb und insbesondere schlecht vorbereiteten Ländern Einlass gewährte, anstatt die bestehenden politischen Strukturen zu vertiefen. 4) Man hat es nie für notwendig gehalten die Grenzen Europas klar zu definieren und der europäischen Konstruktion einen Sinn zu geben.

Weil sie von der Wirtschaft besessen waren, machten sich die „Gründungsväter“ der Europäischen Gemeinschaft keinerlei Gedanken um die Kultur. Ihr eigentliches Projekt zielte darauf ab, die Nationen in Aktionsräumen eines neuen Typs aus einer funktionalistischen Perspektive heraus zusammenzufassen. Für Jean Monnet und seine Freunde bedeutete dies die gegenseitige Verzahnung der Nationalökonomien in so einem Grad, dass eine politische Union notwendig werden würde, nicht zuletzt, weil es kostengünstiger, als ein Ende der Union sein würde. Man darf nie vergessen, dass der erste Name „Europas“ der „Gemeinsame Markt“ war. Dieser anfängliche Ökonomismus favorisierte natürlich den liberalen Wandel der Institutionen genauso, wie die essentiell ökonomische Lesart öffentlicher Politik, welche in Brüssel gemacht werden würde. Anstatt die Ankunft eines politischen Europas zu befördern, führte diese Politik im Gegenteil zu einer ökonomischen Hyptertrophie, einer rapiden Entpolitisierung, der Sakralisierung von Experten und zur Etablierung technokratischer Strategien.

Mit dem Vertrag von Masstricht kamen wir 1992 von der Europäischen Gemeinschaft in die Europäische Union. Dieser semantische Wandel ist insofern relevant, als dass das, was vereint, offensichtlich weniger stark ist, als das, was man gemeinsam hat. Das heutige Europa ist in erster Linie ein Europa der Wirtschaft und der Logik des Marktes, in welchem der Standpunkt der herrschenden liberalen Elite jener ist, dass Europa nichts anderes, als ein riesiger Supermarkt sein soll, welcher alleine der Logik des Marktes folgt.

Der zweite Fehler besteht darin, wie ich schon sagte, dass man versucht hat, Europa von oben zu errichten, also beginnend mit den Institutionen in Brüssel. Wie die Advokaten eines „integralen Föderalismus“ wünschen, hätte eine geistig gesunde Logik von unten beginnen sollen, vom Bezirk und der Nachbarschaft zur Kommune, von der Kommune zur Agglomeration, von der Agglomeration zur Region, von der Region zur Nation und schließlich von der Nation zu Europa. Genau dies hätte die rigorose Umsetzung des Prinzips der Subsidarität ermöglicht. Die Subsidarität setzt voraus, dass eine höhere Autorität nur dann interventiert, wenn eine niedrigere Autorität dazu nicht in der Lage ist, was dem Prinzip der ausreichenden Kompetenz entspricht. Im Europa Brüssels hingegen tendiert eine zentralisierte Bürokratie dazu, alles durch seine Direktiven zu kontrollieren, höhere Autoritäten intervenieren jedes Mal, wenn sie glauben, dazu in der Lage zu sein mit dem Ergebnis, dass die Kommission alles entscheidet, weil sie sich selbst als allmächtig ansieht.

Dementsprechend sollte das Ritual der Souveränisten, in welchem das Europa Brüssels als „föderales Europa“ denunziert wird, keine Illusionen erzeugen: Im Gegenteil, die Tendenz, sich alle Kompetenzen in einer autoritären Art und Weise einzuverleiben, macht die EU zunehmend zu einer Imitation des jakobinischen Modells. Weit entfernt davon, „föderal“ zu sein, ist sie jakobinisch bis zum geht nicht mehr, weil sie auf eine Kombination aus strafenden Autoritarismus, Zentralisierung und Undurchsichtigkeit setzt.

Der dritte Fehler besteht in der gedankenlosen Erweiterung der EU, wohingegen sie besser damit beraten wäre, die Vertiefung bestehender Strukturen zu priorisieren und gleichzeitig in ganz Europa eine politische Debatte darüber zu führen, um einen Konsens über die eigentlichen Ziele der EU zu erreichen. Dies konnten wir gerade bei der EU-Osterweiterung feststellen. In der Tat ist die Mehrheit der Länder nur der EU beigetreten, um vom militärischen Schutz der NATO zu profitieren. Sie sagten Europa, aber träumten von Amerika! Dies führte zu einer Verwässerung und einem Effektivitätsverlust, der jeden davon überzeugte, dass ein Europa mit 25 oder 30 Mitgliedsstaaten einfach unregierbar sei, eine Meinung die noch zusätzlich durch kulturelle, religiöse und geopolitische Sorgen hinsichtlich eines zukünftigen Beitrittes der Türkei verstärkt wurde.

Berücksichtigt man die Ungleichheit der nationalen Wirtschaftsräume, sozialen Verhältnisse und Fiskalsysteme, verursachte die übereilte Erweiterung der Europäischen Union eine erzwungene Verlagerung von Arbeitsplätzen zu Lasten der Arbeiter. Dies war einer der Hauptgründe für die Eurokrise, welche sich dadurch erklären lässt, dass man eine einzige Währung in Umlauf brachte, welche alles, nur nicht die Konvergenz der Nationalökonomien in Europa förderte und sogar ganz im Gegenteil diese bis zur Untragbarkeit verschlimmerte.

Während also die europäische Souveränität folgerichtig nicht aufgefunden werden kann, existiert von der Souveränität der Nationalstaaten nur eine blasse Erinnerung. Anders gesagt wurden die Nationen zerstört ohne Europa zu erschaffen. Dieses Paradoxon erklärt sich nur dann, wenn man versteht, dass die Europäische Union nicht nur die Nation durch Europa ersetzen wollte, sondern auch die Politik durch die Wirtschaft, die Regierung von Menschen durch die Administration von Dingen. Die Europäische Union hat einen Liberalismus übernommen, welcher auf dem Primat der Wirtschaft aufbaut und dem Willen, das Politische durch die „Entpolitisierung“ der so genannten „Kontrolle“ (Governance), dass heißt, durch die Schaffung von Bedingungen, in welchen jeder Rückbezug auf eine klare politische Entscheidung inopportun wird, wenn nicht unmöglich.

Zu dieser liberalen Orientierung kommt eine moralische Krise hinzu. Besessen vom Universalismus, dessen Überträger es lange war, hat Europa ein Gefühl der Schuld und des Selbsthasses entwickelt, welches nun seine Sicht der Welt bestimmt. Daher wurde es zum einzigen Kontinent, der sich zur „Offenheit hin öffnen will“, ohne zu bedenken, was das für Konsequenzen für andere haben könnte.

Es ist eine Tatsache, dass Europa seit seinen Anfängen sich darum bemühte, das Universale zu konzeptualisieren, es wollte auf Gedeih und Verderb eine „Zivilisation des Universalen“. Aber eine „Zivilisation des Universalen“ und eine „universale Zivilisation“ sind nicht dasselbe. Folgt man einem oft zitierten Sprichwort, ist das Universale im besten Sinne des Wortes „das Lokale ohne Mauern“. Aber die herrschende Ideologie ignoriert diesen Unterschied zwischen „universaler Zivilisation“ und der „Zivilisation des Universalen“. Auf Anordnung seiner Repräsentanten hat sich Europa selbst Ignoranz und „Reue“ für das, was es noch immer erinnern darf, an die Fahnen geheftet. Gleichzeitig universalisiert die Religion der Menschenrechte die Idee der Gleichheit. Dementsprechend fungiert ein Humanismus ohne Horizont als Richter der Geschichte, welcher Ununterscheidbarkeit als rettendes Ideal anbietet und die Zugehörigkeit, welche voneinander unterscheidet, jederzeit anklagt. Oder um es mit den Worten von Alain Finkielkraut zu sagen: „Das bedeutet, dass Europa, um nicht länger irgendjemanden auszuschließen, sich selbst abschaffen soll, „entorganisieren“, nur um die Universalität der Menschenrechte aus seinem Erbe aufrechtzuerhalten. Wir sind nichts, das ist die Voraussetzung für uns, um von nichts und niemanden abgeschlossen zu sein.“ „Grundsätzliche Leere, radikale Toleranz,“ sagte der Soziologe Ulrich Beck vom selben Geist beseelt, während einem ganz im Gegenteil das Gefühl der Leere allergisch gegen alles macht.

Die europäischen Staatenlenker sind die einzigen in der Welt, welche sich strikt weigern als Garantiemächte einer Geschichte, einer Kultur, einer kollektiven Identität aufzutreten. Unter ihrem Einfluss hört Europa niemals auf, zu wiederholen, dass seine eigene Vergangenheit nichts zu sagen hat. Die Eurobanknoten demonstrieren das perfekt: Man sieht auf ihnen nur leere Strukturen, abstrakte Architekturen, niemals eine Landschaft, niemals ein Gesicht. Europa will von der Geschichte davonrennen, seiner eigenen insbesonders. Es verbietet sich selbst als das anzunehmen, was es ist und wagt es nicht einmal, die Frage nach seiner eigenen Identität zu stellen, aus Furcht vor „Diskriminierung“ gegen den einen oder anderen seiner Bestandteile. Wenn es erklärt, dass es sich eher „Werten“, als „Interessen“ verbunden fühlt, mit Zielen oder dem Willen zur politischen Souveränität nichts zu tun hat, dann ist das ein Indikator für seine kollektive Machtlosigkeit. Europa weiß absolut nicht, was es tun soll. Es stellt sich nicht einmal die Frage, fast so, als ob es Angst davor hätte festzustellen, dass es nichts will. Und warum mag es nicht? Weil es nicht länger weiß und nicht länger wissen will, was es ist.

Die Folgen sind außergewöhnlich. Im Bereich der Einwanderung setzt sich die EU für eine Politik der Harmonisierung ein, welche sehr großzügig gegenüber den Einwanderern ist und die kein Staat abändern kann. Im kommerziellen und industriellen Bereich setzt sich diese Politik fort. Die Ablehnung jeglicher Begrenzung des freien Austauschs führte zum massiven Export europäischer Güter und Dienste, welche zu niedrigeren Preisen in Entwicklungsländern hergestellt wurden, welches wiederum zum Dumping in allen möglichen Formen führt (sozial, fiskal, ökologisch, usw.), während das europäische Produktionssystem zunehmend in Länder außerhalb Europas verlagert wird, wodurch Entindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und Handelsdefizit überhand nehmen.

Eine Außenpolitik kann es nur dann geben, wenn auch eine politische Souveränität existiert. Die Europäische Union stellt keinen politischen Körper dar, sie kann offensichtlich keine gemeinsame Außenpolitik haben, aber in den meisten Situationen kommt es zu einer Anhäufung nationaler Ansätze in einer „äußeren“ Politik, abgeleitet von „gemeinschaftlichen“ Rechtssprechungen. Egal ob es die amerikanische Intervention im Irak, den Krieg in Libyen, Mali oder Syrien betrifft, ob Russland oder den Nahen Osten, Palästina, den Kosovo, oder so wie kürzlich die Krim, waren die Europäer immer unfähig, eine gemeinsame Position zu finden. Die Mehrheit von ihnen war damit zufrieden, einfach amerikanische Positionen zu übernehmen. Indem die Europäer nicht mehr ihre gemeinsamen Interessen wahrnehmen, können sie nicht länger einen gemeinsamen Willen oder eine gemeinsame Strategie haben.

Trotz all der Täuschungen, welche das europäische Projekt bis heute propagiert hat, bleibt ein politisch geeintes Europa heute notwendiger, denn je. Warum? Erstens, um den europäischen Völkern, welche Kriegen und Konflikten wegen aller Art von Rivalitäten viel zu lange ausgesetzt waren das Bewusstsein ihrer gemeinsamen Herkunft, Kultur und Zivilisation wiederzugeben und sie in ihrem gemeinsamen Schicksal zu bekräftigen, ohne das sie sich jemals wieder mit der Waffe in der Hand gegenüberstehen müssen; aber auch aufgrund des historischen Moments, in dem wir leben.

In der Ära von Jalta, als die Welt vom amerikanischen und sowjetischen Machtpol dominiert wurde, war die Entstehung eines dritten europäischen Pols bereits eine Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit ist heute größer, denn je seit dem Kollaps des sowjetischen Systems: in der Welt die seither entstanden ist, kann nur ein vereintes Europa den Völkern, die es bilden, eine angemessene Rolle in der Welt bieten. Um die Dominanz der amerikanischen Hypermacht zu beenden, müssen wir eine multipolare Welt wieder aufbauen. Auch das ist ein Grund, Europa zu erschaffen.

Die Globalisierung zu der Zeit, in der sie sich ohne Grenzen die Bahn bricht, wenn Raum und Zeit buchstäblich abgeschafft werden, verurteilt die Nationalstaaten buchstäblich zur Machtlosigkeit. In der Ära der Spätmoderne oder heraufdämmernden Postmoderne wird der Nationalstaat, welcher sich bereits seit den 1930er Jahren in der Krise befindet, mit jedem Tag überkommener, während transnationale Phänomene nicht aufhören zu wachsen. Es ist nicht so, als dass der Staat all seine Macht verloren hätte, aber er kann sich nicht länger gegen Einflüsse zur Wehr setzen, welche ein planetares Ausmaß angenommen haben, angefangen beim Finanzsystem. In einer Welt, die von Unsicherheiten und globalen Risiken dominiert wird, kann kein Land mehr darauf hoffen, mit den Problemen fertig zu werden, die es betreffen. Anders gesagt sind Nationalstaaten nicht mehr die entscheidenden Entitäten, welche nationale Probleme lösen können. Einerseits sind sie zu groß um den täglichen Erwartungen ihrer Bürger begegnen zu können, andererseits zu klein, um sich den planetaren Herausforderungen und Beschränkungen entgegenstellen zu können. Der historische Moment, in dem wir leben, ist jener der lokalen Aktion und der Kontinentalblöcke.

Gleichzeitig erscheinen die „Souveränisten“ als gute Kritiker, bieten aber keine guten Lösungsvorschläge. Wenn sie etwa, natürlich nicht ohne Grund, den bürokratischen und technokratischen Charakter der Entscheidungen in Brüssel kritisieren, ist es zum Beispiel leicht, ihnen zu antworten, dass auch die Bürokratien und Technokratien der Nationalstaaten um keinen Deut besser seien. Wenn sie den Transatlantismus der EU kritisieren, ist es auch einfach, ihnen entgegenzuhalten, dass die Nationalstaaten sich in genau die selbe Richtung orientieren. Gegenwärtig werden wir Zeuge eines Trends in Richtung weltweiter Homogenisierung, welcher sowohl die Kultur, als auch die Wirtschaft und das soziale Leben betrifft. Die Existenz der Nationalstaaten hält ihn in keinster Weise auf. Die Vektoren dieser Homogenisierung respektieren keine Grenzen und es wäre ein großer Fehler zu glauben, ihnen entgegentreten zu können, indem wir diese verstärken. Dementsprechend wäre der Großteil der Kritik an Europa auch gleichsam auf nationaler Ebene angebracht.

Andere Kritiker wiederum sind widersprüchlich, indem etwa die selben Leute, welche die politische Machtlosigkeit Europas anklagen, bei Themen wie den Golf- oder Jugoslawienkriegen gleichzeitig die notwendige Delegation politischer Macht an eine echte europäische Regierung ablehnen, welche als einzige dazu in der Lage wäre, die notwendigen Entscheidungen in der Außenpolitik zu treffen.

Das Argument von der „Souveräntität“ der Nationen ist nicht besser. Wenn sie sagen, dass die Europäische Union das Ablegen der nationalen Souveränität bedeutet, dann vergessen sie, dass die Nationalstaaten bereits ihre Kapazität zur politischen Entscheidungsfindung in allen bedeutenden Bereichen verloren haben. Im Moment der Globalisierung waren sie nur noch im Besitz einer nominellen Souveränität. Die Machtlosigkeit der nationalen Regierungen im Angesicht von Kapitalbewegungen, der Macht der Finanzmärkte, der unvorhergesehenen Mobilität des Kapitals ist heute offensichtlich. Wir müssen dieses Faktum anerkennen, um Mittel zur Etablierung einer neuen Souveränität auf einer Ebene, auf der sie konkret umgesetzt werden kann, finden und das ist die europäische Ebene. Auch das ist eine zusätzliche Motivation, um Europa zu erschaffen.

Eine der tiefsten Ursachen für die Krise des europäischen Projekts ist, dass offensichtlich niemand eine Antwort auf die Frage: „Was ist Europa?“ geben kann. Doch fehlt es nicht an Antworten auf diese Frage und man kann sich auf die meisten einigen und keine einzige ist einstimmig. Aber die Antwort auf die Frage: „Was ist Europa?“ bedingt die Antwort auf eine andere Frage: „Was soll es sein?“

Jeder weiß eigentlich sehr gut, dass es keinen gemeinsamen Nenner zwischen einem Europa gibt, welches eine autonome und souveräne Politik zu machen versucht, mit klar definierten Grenzen und gemeinsamen politischen Institutionen und einem Europa, welches nur einen riesigen Markt, einen Raum des offenen Freihandels und der „offenen Meere“ bedeutet, bestimmt sich in einem grenzenlosen Raum aufzulösen, größtenteils entpolitisiert oder neutralisiert, welches nur mit technokratischen und transnationalen Entscheidungsmechanismen funktioniert. Die übereilte Erweiterung Europas und seine existenzielle Unsicherheit wiegen als schwere Last auf den Schultern der europäischen Konstruktion und deswegen hat die EU deshalb heute das zweite Modell favorisiert, welches „angelsächischer“ oder „transatlantischer“ Provinienz ist bis heute. Aber die Wahl zwischen diesen beiden Modellen bedeutet auch, sich zwischen dem Politischen und dem Ökonomischen, der Macht des Landes und der Macht des Meeres zu entscheiden. Unglücklicherweise haben diejenigen, welche sich mit dem europäischen Projekt beschäftigen meist nicht die geringste Ahnung von Geopolitik. Der Antagonismus zwischen terrestrischer und maritimer Logik entgeht ihnen völlig.

1964 hat General de Gaulle dieses Problem perfekt auf den Punkt gebracht, als er verkündete: „Für uns Franzosen geht es darum, Europa zu schaffen um Europäer zu sein. Ein europäisches Europa bedeutet, dass es auf sich alleine gestellt existiert und nur für sich alleine existiert, anders gesagt, hat es seine eigene Politik inmitten der Welt. Aber das ist genau der Punkt, welchen bestimmte Menschen, die vortäuschen, ihn umsetzen zu wollen, ablehnen, entweder bewusst oder unbewusst. Grundsätzlich erscheint ihnen die Tatsache, dass Europa, dem heute eine eigenständige Politik fehlt, diese von der anderen Seite des Atlantiks diktiert bekommt, als normal und zufriedenstellend, sogar heute noch.“

Europa ist entweder eine Zivilisationsprojekt oder es ist gar nicht. Als solches impliziert es eine bestimmte Vorstellung vom Menschen. In meinen Augen ist diese die Idee einer autonomen und verwurzelten Person, welche im selben Atemzug Individualismus und Kollektivismus veruteilt, Ethnozentrismus und Liberalismus. Das Europa, das ich mir wünsche, ist ein Europa des integralen Föderalismus, das Einzige, welches das notwendige Gleichgewicht zwischen Autonomie und Einheit, Einheit und Vielfalt, in einer dialektischen Weise vereinen kann. Auf diesen Grundlagen sollte Europa die Ambition haben, sowohl eine souveräne Macht, welche ihre eigenen Interessen verteidigen kann und ein Pol des Widerstandes gegen die Globalisierung in einer Multipolaren Welt zu sein, ein eigentümliches Projekt seiner Kultur und Zivilisation.

Wir können gut erkennen, dass die Situation momentan verfahren ist. Wir wollen dieses Europa, wir haben aber jenes Europa der Technokraten. Wir leiden an den Nachteilen der Schaffung einer Einheitswährung, ohne von den Vorteilen zu profitieren. Wir sehen nationale Souveränitäten verschwinden, ohne die europäische Souveränität zu erhalten, welche wir brauchen. Wir sehen Europa als einen Handlanger und nicht als einen Gegner der Globalisierung agieren. Wir sehen, wie es eine Austeritätspolitik und Abhängigkeit von den Finanzmärkten rechtfertigt. Wir sehen, wie es die Solidarität mit Amerika im neuen Kalten Krieg mit Russland bekräftigt und der Unterzeichnung eines transatlantischen Handelsvertrages mit den Amerikanern zustimmt, der uns ihnen vollkommen ausliefern würde. Wir sehen wie es zunehmend an Gedächtnisverlust leidet, sich selbst vergisst und daher unfähig dazu wird, vernünftige Pläne für die Zukunft aus seiner Vergangenheit heraus zu schmieden. Wir sehen, wie es Europa ablehnt, das, was es ererbt hat, weiterzugeben, wir sehen, dass es unfähig ist, ein großes Projekt für die Zukunft zu formulieren. Wir sehen, wie es aus der Geschichte aussteigt und damit das Risiko eingeht, selbst zum Objekt der Geschichte von jemand anderen zu werden.

Wie können wir diese Blockade beenden? Das ist das Geheimnis der Zukunft. Wir können hier und da Alternativen erkennen, welche sich selbst andeuten. Sie alle verdienen es, in Betracht gezogen zu werden, nichtsdestotrotz ist die Zeit dafür kurz bemessen. Ich zitiere oft diesen Satz Nietzsches, der einmal sagte: „Europa wird sich selbst nur am Rande des Grabes schaffen. Nietzsche appelierte auch, wie wir wissen, an die „guten Europäer.“ Also gut, seid „gute Europäer“: Lasst uns einen Aufruf starten, damit der europäische Staat endlich erscheint, das europäische Reich, das autonome und souveräne Europa, dass wir schaffen wollen und welches uns vor dem Grab retten wird.

Lang lebe Europa meine Freunde! Danke sehr!

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