Žižek: Corbyns Erfolg und die Politische Korrektheit

Žižek: Corbyns Erfolg und die Politische Korrektheit

(Der folgende Aufsatz stammt von Slavoj Žižek, dem zur Zeit einzig ernstzunehmenden Denker der radikalen Linken. Das englische Original findet ihr hier.)

Das Geheimnis von Corbyns Erfolg war, dass er sowohl die Kultur der Politischen Korrektheit als auch den hetzerischen Populismus abgelehnt hat.

Die Tatsache, dass so ein Zugang zu nicht weniger, als einer großen Verschiebung in der politischen Landschaft beiträgt, ist ein Armutszeugnis für die Zeiten, in denen wir leben. Aber es zeigt uns auch, wohin ab jetzt die Richtung gehen muss.

Der unerwartete Wahlerfolg der Labourpartei hat die vorherrschende zynische Weisheit der Kommentatoren, auch jener die vorgetäuscht hatten, mit ihm zu sympathisieren, Lügen gestraft. Ihre bevorzugte Ausrede lautete wie folgt: „Ja, ich würde ihn wählen, aber er ist unwählbar, das Volk wurde viel zu stark manipuliert und verängstigt, jetzt ist die Zeit noch nicht reif für so einen radikalen Wandel.“

Rufen wir uns Tony Blairs Behauptung in Erinnerung, dass die Labourpartei unter Corbyn unrettbar marginalisiert sei und nicht länger das Potenzial zur Regierungspartei habe. Die Heuchelei solcher Stellungnahmen liegt darin, dass sie den eigenen politischen Standpunkt als eine resignierte Einsicht in den objektiven Stand der Dinge maskieren.

Natürlich gibt es Zweifel und Probleme die weiterbestehen. Man sollte nicht nur die Grenzen von Corbyns Programm angehen. Reicht es über den alten Wohlfahrtsstaat hinaus, würde eine Labourregierung den Sturmangriff des globalen Kapitals überleben? Von einem radikaleren Standpunkt aus, sollte man nicht davor zurückschrecken, die Schlüsselfrage zu stellen: Ist der Wahlsieg noch immer der entscheidende Moment hin zu einem radikalen sozialen Wandel? Beobachten wir nicht gerade die zunehmende Nichtigkeit von Wahlen?

Was aber über das aktuelle Ergebnis hinaus von größerer Signifikanz ist, wäre der (relative) Erfolg der Labourpartei. Dieser Erfolg konnte aufgrund eines bedeutenden ethischen und politischen Wandels eintreten, eines starken Wandels, der gegen die Vulgarisierung der öffentlichen Rede gerichtet war. Das Problem besteht in dem, was Hegel Sittlichkeit nannte: Die ungeschriebenen Regeln des Sozialen Lebens, die massive und undurchdringliche ethische Substanz, die uns sagt, was wir tun können und was nicht.

Diese Regeln erodieren heute immer mehr: Was vor ein paar Jahrzehnten in einer öffentlichen Debatte einfach unsagbar war, kann heute ungestraft ausgesprochen werden. Trump kann über Melanias Darmwinde sprechen und proklamieren, dass „Folter funktioniert“, Netanjahu kann behaupten, dass die Palästinenser den Holocaust verursacht haben und europäische Populisten können behaupten, dass der Zustrom von Flüchtlingen von Juden gelenkt wird und so weiter.

Aber warum sprechen wir heute über Höflichkeit und öffentliches Benehmen, wenn wir viel erdrückenderen „wirklichen“ Problemen gegenüberstehen? In dem wir das tun, fallen wir nicht auf das Niveau von Thomas de Quinceys berühmten Bonmot über die einfache Kunst des Mordes zurück: „Wie viele Menschen begannen damit, Terror und Wirtschaftskrisen auf die Welt loszulassen und endeten damit, sich ungebührlich auf einer Feier zu benehmen?“ Aber Manieren sind von größter Wichtigkeit – in angespannten Situationen sind sie eine Frage auf Leben und Tod, ein schmaler Grat, der die Barbarei von der Zivilisation trennt.

Damals in den 1960er Jahren war gelegentliches schlechtes Benehmen vor allem mit der politischen Linken verbunden: studentische Revolutionäre benützten oft eine gemeinsame Sprache, um den Kontrast zwischen ihnen und den Politikern mit ihrer geschliffenen Sprache zu verstärken. Heute ist eine vulgäre Sprache fast ausschließlich ein Vorrecht der radikalen Rechten, sodass sich die Linke heute in der überraschenden Position befindet, Verteidiger der guten Sitten zu sein.

Unglücklicherweise wird die links-liberale öffentliche Sphäre immer mehr von den Regeln der Tweetkultur dominiert: Schnappschüsse, scharfe Antworten, sarkastische oder wütende Anmerkungen, all das ohne Raum für komplexe Argumente. Eine Passage, meistens ein Satz oder sogar nur ein Teil davon, wird aus dem Zusammenhang gerissen und darauf geantwortet. Der Standpunkt, der diese Tweets beantwortet, ist eine Mischung aus Selbstgerechtigkeit, politischer Korrektheit und brutaler Sarkasmus: In dem Moment, in dem etwas als problematisch klingend aufgefasst wird, kommt es automatisch zur Antwort, die meistens aus politisch-korrekten Allgemeinplätzen besteht.

Obwohl die Kritiker gerne Wert darauf legen, zu betonen, dass sie die Normativität zurückweisen („die aufgezwungene heterosexuelle Norm“ usw.), ist ihr Standpunkt von mitleidsloser Normativität geprägt, die jede kleinste Abweichung vom Dogma der Politischen Korrektheit als „Transphobie“, „Faschismus“ und so weiter denunziert. Diese Tweetkultur, die offiziell Toleranz und Offenheit predigt, sich aber gleichzeitig mit extremer Intoleranz gegenüber wirklich anderen Ansichten paart, macht kritisches Denken einfach unmöglich. Sie ist dabei nicht anderes, als ein wahrhaftes Spiegelbild der blinden populistischen Wut à la Donald Trump und gleichzeitig einer der Gründe dafür, warum die Linke so oft darin scheitert, dem Rechtspopulismus entgegen zu treten, insbesondere im gegenwärtigen Europa. Wenn man nur erwähnt, dass der Populismus einen großen Teil seiner Energie aus der weiterverbreiteten Unzufriedenheit der Ausgebeuteten bezieht, wird man sofort des „Klassenessentialismus“ beschuldigt.

Genau vor diesem Hintergrund sollte man den Wahlkampf der Konservativen und Labour miteinander vergleichen. Die Kampagne der Konservativen hat einen neuen Tiefpunkt im Kampf um das Politische im Vereinigten Königreich erreicht: Die Panikmache gegen Corbyn als Terrorsympathisanten, gegen die Labourpartei als Hort des Antisemitismus und all das kulminierte in Theresa Mays freudigem Versprechen, die Menschenrechte niederzureißen. Wenn es jemals eine Politik der Angstmache gab, dann in diesem Wahlkampf. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass UKIP vom Feld verschwand, denn May und Johnson haben ihre Stelle eingenommen.

Corbyn aber weigerte sich, in diese schmutzigen Spiele hineingezogen zu werden: Mit einer ausgesprochenen Naivität hat er einfach die wirklichen Sorgen der einfachen Menschen angesprochen, vom Zustand der Wirtschaft bis hin zur Bedrohung durch den Terror und klare Gegenmaßnahmen vorgeschlagen. Es gab keine Wut und keine Verbitterung in seinen Stellungnahmen, keine billige populistische Hetze, aber auch keine politisch-korrekte Selbstgerechtigkeit. Er hat einfach nur mit gewöhnlichem Anstand die Probleme der einfachen Leute angesprochen.

Die Tatsache, dass ein solcher Zugang zur Politik für nicht weniger, als eine große Verschiebung in der politischen Landschaft verantwortlich ist, ist ein Armutszeugnis für die Zeiten, in denen wir leben. Aber es ist auch ein neuer Beweis für Hegels alte Behauptung, dass ausgesprochene Naivität manchmal die schlaueste und zerstörerischste aller Strategien ist.

Kommentar verfassen