Alain de Benoist: Identität und Souveränität – zwei unzertrennliche Begriffe
(Das folgende Interview mit Alain de Benoist, dem neben Alexander Dugin zur Zeit bedeutendsten Denker der Neuen Rechten, wurde von Nicolas Gauthier für Boulevard Voltaire geführt.)
In einem bestimmten Milieu hat man den Hang dazu, sich zwischen jene beide Begriffe zu stellen, über welche die ganze Welt heute spricht: Identität und Souveränität. Im Front National war Marion Maréchal-Le Pen immer die Repräsentantin des Ersten, wohingegen Florian Philippot stets Verteidiger des Zweiteren war. Halten sie diese Gegensätzlichkeit für berechtigt?
Als sie vor ein paar Monaten hiezu vom Magazin Causeur befragt wurde, antwortete Marine Le Pen: “Mein Projekt ist an sich patriotisch, weil es gleichzeitig die Souveränität und Identität Frankreichs verteidigt. Wenn man eine von beiden vergisst, dann begeht man einen Betrug.” Also betrügen wir nicht. Warum sieht man Identität und Souveränität als zwei gegensätzliche Ideen an, wenn sie doch komplementär sind? Die Souveränität ist ohne Identität nur eine leere Hülle, ohne die Souveränität kann sich die Identität nur in Ektoplasma verwandeln. Also kann man sie nicht voneinander trennen. Das Eine und das Andere transzendiert sich übrigens in der Freiheit. Souverän sein heißt, die Freiheit zu haben, seine eigene Politik zu bestimmen. Seine Identität zu bewahren bedeutet für ein Volk, dazu in der Lage zu sein, frei über die Bedingungen seiner sozialen Reproduktion zu entscheiden.
Wenn also die Identität ein fließendes Konzept ist, ist die Souveränität nicht viel einfacher zu definieren?
Weniger einfach als es scheint. Die Souveränität, die “eins und unteilbar” ist, wie Jean Bodin in seinen Les Six Livres de la République (1576) fordert, hat nicht viel mit jener Souveränität zu tun, von welcher Althusius 1603 in seiner Politica methodice digeste spricht, welche in der Subsidarität und dem Prinzip der ausreichenden Kompetenz begründet liegt. Die Vorgehensweise von Bodin ist ausgesprochen modern. Sie impliziert die Staatsnation und das Verschwinden der Unterscheidung, welche man zuvor zwischen der Staatsmacht (potestas) und der Autorität oder Würde der Macht (auctoritas) gemacht hat.
Die bodinsche Souveränität birgt die Gefahr, den Souverän zu jemanden zu machen, der von niemanden außer sich selbst abhängig ist (individualistisches Prinzip). Sie ist blind gegenüber den natürlichen Gemeinschaften und beschränkt alles auf den Despotismus: Alles was darauf ausgerichtet ist, die Entscheidung des Fürsten von anderen Faktoren abhängig zu machen, wird als Angriff auf seine Unabhängigkeit und absolute Souveränität betrachtet. Dann verliert man endgültig den Blick für das Politische, welches das Gemeinwohl ist.
Die Volkssouveränität auf der anderen Seite unterscheidet sich von der Souveränität der Nation und des Staates. Erstere begründet die Legitimität mit der politischen Macht, wohingegen Zweitere sie auf dem Feld des Handelns und in den Modalitäten der Macht sucht. Jacques Sapir unterscheidet von seinem Standpunkt aus den sozialen Souveränismus, den identitären Souveränismus und den Souveränismus der Freiheit”, der mit der Souveränität der Nation die Garantie der politischen Freiheit des Volkes will.” Betrachtet man den identitären Souveränismus genauer, so ist er mit der neoliberalen Ordnung der Dinge überhaupt nicht kompatibel, während der Souveränismus nationaler und sozialer Art ganz natürlich jegliche Bevormundung zurückweist.
Man sollte auch nicht vergessen, dass auch eine europäische Souveränität sehr gut existieren könnte, wenn sie auch heute nur ein Traum ist. Von diesem Standpunkt aus gesehen besteht das Drama nicht darin, dass die Staatsnationen sehenden Auges ganze Teile ihrer Souveränität (politisch, ökonomisch, budgetär, finanziell und militärisch) verschwinden haben lassen, sondern dass sie diese an das schwarze Loch der Brüsseler Institutionen verlieren, ohne sie jemals auf eine höhere Ebene gebracht zu haben.
Sie sagen also über die Identität, dass sie heute zu einer Parole und einer Forderung wird, man sie aber höchst unterschiedlich definieren kann?
Sie ist individuell oder kollektiv, aber nie eindimensional. Wenn wir sie also mit Hilfe der einen oder anderen Facette definieren, sagen wir selten, was die Dimension oder die unterscheidende Charakteristik unserer Identität ist, weil wir uns erhoffen, durch sie das wichtigste auszudrücken, nämlich wer wir sind. Eine derartige Vorgehensweise enthält immer einen willkürlichen Abschnitt, trotzdem sie sich gegen Angaben auflehnt welche man empirisch verifizieren kann.
Soll sich ein Individuum mehr über seine nationale, sprachliche, kulturelle, religiöse, sexuelle oder berufliche Identität definieren? Es gibt keine Antwort auf diese Frage. Für ein Volk ist Identität untrennbar mit einer Geschichte verbunden, welche das ihm passende Sozialverhalten geschaffen hat. Die identitäre Forderung oder der Protest scheinen daher dieses Sozialverhalten mit der Auflösung oder dem Aussterben zu bedrohen. Es geht also um den Kampf für die Fortsetzung verschiedener Arten des Lebens und überlieferter Werte. Aber man sollte sich keine Illusion machen: Die Identität beweist sich mehr noch, als dass sie sich nicht bewährt, sonst riskiert man, dem Fetischismus oder der Nekrose zu verfallen. Für die Individuen, wie für die Völker ist sie die schöpferische Kapazität, welche die bessere Fortführung der Persönlichkeit ausdrückt. Oder wie es Philippe Forget sagt: “Ein Volk drückt nicht seine Wesensart aus, weil es mit einer Identität ausgestattet ist, sondern es bildet eine Identität, weil es eine lebendige Wesensart besitzt.”
Das Interview wurde von Nicolas Gauthier geführt.